DER FADEN DER ARIADNE -  ARIADNE'S THREAD

Skulpturale Strukturen - Das Prinzip bleibt die Linie

Die Faszination liegt für mich in der Verwandlung von Materie in etwas ganz Neues, in einen Gegenstand, der fassbar ist, begreifbar. Das Prinzip bleibt die Linie, der Faden zeichnet im Raum. Alles ist ganz konkret: Strichlagen verdichten sich zu skulpturalen Strukturen, die grafische Linie wird - in die Materie übersetzt - zum räumlichen Gebilde. Der Faden entwickelt Plastizität in traditioneller Handwerkstechnik, es entstehen Skulpturen aus gewöhnlichen, einfachen , "armen" Materialien. Das auslösende Moment kann biographischer Natur sein oder Impuls durch das Material. Der Kontext der Objekte dient zuerst der Raumkonzeption. Die Objekte selbst erzählen wortlos, ohne Erklärung, ohne Geschichte. Sie sind Raumzeichen. Die Linie ist Handlauf und Spur. Der Faden der Ariadne. Ein magischer Prozess. Man kann ihm verfallen. 

 

ARIADNE'S THREAD

Sculptural Structures - The principle is still the line

The fascination for me lies in transforming matter into something completely new, into an object that you can grasp, both mentally and with your hands. The line continues to be the underlying principle, the string draws in space. Everything is completely material. Layers of lines condense into sculptural structures. The graphic line - translated into matter - turns into an object in space. The string generates plasticity using traditional craft technique. Sculptures develop from common, simple, „poor“ materials. The impulse may be of a biographical nature or may come from the material used. The context of the objects serves the spatial concept. The objects themselves tell a story without words, without explanation, without history. They are spatial signs. The line is handrail and trail. The string of Ariadne. A magical process. One can fall under its spell.

 

 

Translated by Dr. Klaus Wieser

 

 

 

Zu den Skulpturen von Friederike Kahle - Nicolaides

 

Christine Prause


 Zu den Objekten der Ausstellung MENSCHENBILDER im WALZWERK NULL in Düsseldorf

 

(….......)

 

Worin besteht nun eigentlich das künstlerische Anliegen von Kahle-Nicolaides, worauf richtet sich ihr Interesse? Die Künstlerin holt ihre Motive dort ab, wo sie ihr im Alltag begegnen: in ihrem Lebensumfeld. Ihre gegenständliche Kunst geht von dieser Wirklichkeit aus, von der erlebten und erfahrbaren äußeren und inneren Realität. Diese Lebensrealität ist komplex und untrennbar verbunden mit der Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung. Was mit einem Kopf beginnt, lässt die Künstlerin über Jahre nicht mehr los. Ihre Figuren verweisen in ihrer irritierenden weissen Nacktheit und Anonymität auf die (...) "Grunderfahrungen des Fremdseins, des Befremdlichen". Waren ihre Bilder der 80-er Jahre noch von fotografischen Momentaufnahmen inspiriert, die porträthafte Züge trugen, tritt dieses persönliche Lebensumfeld nun in den Hintergrund. Ihr Thema sind Raum und Zeit.

 

 

„Menschenbilder“ hat sie ihre Ausstellung genannt. Nicht eigentlich eine Auswahl, eher eine Folge der entstandenen Skulpturen sind die  ( ...) Themenbereiche, die hier in Form von Installationen gezeigt werden:

 

(....)

 

Die Skulpturen fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach Leben und Tod. Der Betrachter wird verwiesen auf ein „Davor“ und „Danach“ des Lebens. Vor der Geburt, nach dem Tod. Stille an den Rändern des Lebens. Sie erzählen nichts, sind ohne Eigenschaften, ohne Geschichte, bar jeder Individualität liegen, hängen oder lehnen sie an Sockeln oder der Wand, passiv und ausdruckslos. Sie sind im Raum, aber nicht an-wesend, vielmehr wie aus einer fernen unbekannten Welt, in der Zeit und das Vergehen der Zeit keine Rolle spielt. Sie erzeugen in uns den Wunsch, an der Stille teilzuhaben. Es ist wie eine transzendierende Verheißung.

 

Sucht man nun nach gemeinsamen Gestaltungsmerkmalen, so wird man schnell fündig: Die Künstlerin wählt mit dem Häkeln eine Handarbeitstechnik, die in der Mode gerade wieder einmal en vogue war. Aber der Kontrast könnte größer nicht sein. In Monate langer meditativer Arbeit entstehen zunächst Körperhüllen, die Body Suits, die später ( ... ) ausgestopft werden wie Puppen. Zeichnungen von Albrecht Dürer helfen der Künstlerin dabei, die richtigen Proportionen für die Body Suits einzuschätzen, deren Passform sich erst mit der Füllung erweist. Korrekturen sind kaum möglich. Der Realisationsprozess ist so von vorneherein weitgehend festgelegt. So hat die Künstlerin sich nur in den Modellen die Freiheit gestattet, Varianten und Alternativen durchzuspielen. Aber Skizzen, Zeichnungen und Texte begleiten die gesamte Entstehung der Softsculptures , und Fotos dokumentieren mögliche Präsentationsformen.

 

Zeichnung und Linie sind wichtigster Bestandteil und charakteristisches Merkmal dieser Skulpturen. Die ursprünglich in der Fläche beheimatete Linie entwickelt sich zum räumlichen Objekt und Behältnis, zur Umhüllung eines verborgenen Kerns. Die in Stoff materialisierte Linie wird gleichsam zur Außenhaut eines Körpers. Der Herstellungsprozess erinnert an biologische Entwicklungsstadien wie Ei, Puppe oder Larve. Die Künstlerin verzichtet weitgehend auf Farbe. Das vorherrschende Weiß ist eine abstrakte Farbe. Im Bild steht Weiß für Leere, Raum und ist Projektionsfläche für die Gedanken des Künstlers. Hier in den Plastiken spiegelt es die Assoziationen des Betrachters wider. Darüber hinaus symbolisiert Weiß Reinheit und Unschuld, Verletzlichkeit und Tod. Ohne Fassung sind diese Body Suits, die Körper-Anzüge. Sie verbergen nichts, bringen vielmehr die Nacktheit der Figuren schutzlos und unverhüllt zum Ausdruck. Der Betrachter nimmt angedeutete Gesten wahr, physiognomische Details wie Gesichter, Brüste, Hände und Füße, gerade so viel, dass er daraus Menschen erkennen kann. Er realisiert aber vor allem das, was er, von der Vorstellung der menschlichen Figur ausgehend, nicht vorfindet: individuelle realistische Attribute wie Haare, Augen und Blick, Statur, eine feste kohärente Gestalt, ein Gegenüber. (......)

 

Die Körper, ohne die Gliedmaßen, enthalten bereits alles, was diese Skulpturen ausmacht. Wie antiker vom Regen ausgewaschener Kalkstein deutet der Torso bereits das Mögliche der Gestaltung an, ohne es zu zeigen. Der Betrachter sieht nicht eine im bildhauerischen Sinne fertig ausgeformte Gestalt, sondern erlebt die Gestaltwerdung, eine Metamorphose.

 

Wenn ich nach verwandten „Bildern“ suche, fallen mir zunächst keine künstlerischen Vorbilder ein, sondern Relikte aus dem Totenkult, rituelle Objekte, eingewickelte Mumien, aber auch verletzte und bandagierte Körper. ( ……..) Eine Geistes-Verwandtschaft vermute ich viel eher bei den frühen monumentalen Frauenfiguren der Bildhauerin Maria Lehnen, deren voluminöse Körperlichkeit durch Abschnürungen entstand. Oder auch in Maria Lassnigs spiritueller Auffassung des weiblichen Körpers als Behältnis für Empfindungen, Schmerzen, Leiden und Sterben.

 

Ich erinnere einen Besuch in den Katakomben von Palermo vor vielen Jahren. Die Ruhe und Stille der Jahrhunderte alten Grablegungen im Zwielicht des Kellers umfing mich, ich war allein. Eine fast heitere Erfahrung waren die Geistlichen im Ornat, in Nischen gebettet oder gestellt. Die trockene Luft ließ die Körper eintrocknen. Geisterhaft deutende Gesten und physiognomische Attitüden verrieten eine stille An-Wesenheit und ruhige Würde. Besonders waren die 1-3 Jährigen Kinder: in Kleidchen stehen sie da in den Nischen, mit geschlossenen Augen und blassen Gesichtern. Die Spur des Gewesenen, ohne das Gewicht von Leben oder Leiden. Nur: Sosein, Stille.

 

Die Skulpturen von Friederike Kahle-Nicolaides brechen mit den Erwartungen ästhetischer Gestaltung. Sie zeigen uns eine Realität, in der die Künstlerin selbst immer auch die Schönheit gesehen hat. Will der Betrachter diese Schönheit für sich entdecken, muss er sich ganz auf diese innere Wirklichkeit einlassen. (…..)

 

 

 

 

Krefeld, im Juni 2017                                                                                                                                                       Christine Prause

 

 

 

 

 

 

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Menschenbilder - Skulpturen von Friederike Kahle-Nicolaides (….. ….. ) Worin besteht nun eigentlich das künstlerische Anliegen von Kahle-Nicolaides, worauf richtet sich ihr Interesse? Die Künstlerin holt ihre Motive dort ab, wo sie ihr im Alltag begegnen: in ihrem Lebensumfeld. Ihre gegenständliche Kunst geht von dieser Wirklichkeit aus, von der erlebten und erfahrbaren äußeren und inneren Realität. Diese Lebensrealität ist komplex und untrennbar verbunden mit der Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung. Was mit einem 'Kopf' beginnt, lässt die Künstlerin über Jahre nicht mehr los. Ihre Figuren verweisen in ihrer irritierenden weissen Nacktheit und Anonymität auf die (Zitat K-N) "Grunderfahrungen des Fremdseins, des Befremdlichen". Waren ihre Bilder der 80-er Jahre noch von fotografischen Momentaufnahmen inspiriert, die porträthafte Züge trugen, tritt dieses persönliche Lebensumfeld nun in den Hintergrund. Ihr Thema sind Raum und Zeit. „Menschenbilder“ hat sie ihre Ausstellung genannt. Nicht eigentlich eine Auswahl, eher eine Folge der entstandenen Skulpturen sind die beiden großen Themenbereiche, die hier in Form von Installationen gezeigt werden: Die zentrale Gruppe thematisiert die Lebensalter. Sie besteht aus 6 weiblichen Figuren, die die Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod umfassen. Aber eine Festlegung ist dies nicht. Verschiedene Zuordnungen sind möglich. Ein zweiter großer Themenbereich wird mit der Kreuzigungsgruppe angesprochen. Die Kreuz-Installation besteht aus der Figur des Gekreuzigten, einer graufarbigen überlebens-großen Gestalt in der Mitte und einer weiblichen Skulptur, die abgewandt zu Füßen des Ge-kreuzigten liegt und in der christlichen Ikonografie die Beweinung durch Maria und Maria Magdalena darstellt. Ein drittes Thema kündigt sich in 3 weiteren lebensgroßen Skulpturen an, bestehend aus einer Frau und 2 Hunden. Technisch und inhaltlich hat Friederike Kahle-Nicolaides hier etwas ganz Neues ausprobiert, farbige, teils bekleidete Skulpturen, genäht aus Stoffstreifen, die z.T. frei im Raum stehen. Den Betrachter erinnern sie an Gipsabformungen vom lebenden Körper, Pop-Art-Künstler wie Segal kommen einem kurz in den Sinn, denn die naturalistische Ähnlichkeit ist verblüffend. Die Wirkung ist aber befremdlicher und absurder. Hier versucht die Künstlerin über die Kompilation dreier Figuren, deren Zusammengehörigkeit sich nicht erklärt, einen magischen Raum innerhalb des Realraums zu beschwören. Gleichsam die Verkörperung eines Traumbildes. Daneben sehen Sie in der Ausstellung verschiedene Modelle in Modellgröße von max. 30 cm auf Holzsockeln, hier sei besonders die Figur des Wechselbalgs (Arbeitstitel) erwähnt, bei der die Künstlerin einen liegenden weißledernen Puppenkörper mit einem Kopf kombiniert hat. Die Skulpturen fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach Leben und Tod. Der Betrachter wird verwiesen auf ein „Davor“ und „Danach“ des Lebens. Vor der Geburt, nach dem Tod. Stille an den Rändern des Lebens. Sie erzählen nichts, sind ohne Eigenschaften, ohne Geschichte, bar jeder Individualität liegen, hängen oder lehnen sie an Sockeln oder der Wand, passiv und ausdruckslos. Sie sind im Raum, aber nicht an-wesend, vielmehr wie aus einer fernen unbekannten Welt, in der Zeit und das Vergehen der Zeit keine Rolle spielt. Sie erzeugen in uns den Wunsch, an der Stille teilzuhaben. Es ist wie eine transzendierende Verheißung. Sucht man nun nach gemeinsamen Gestaltungsmerkmalen, so wird man schnell fündig: Die Künstlerin wählt mit dem Häkeln eine Handarbeitstechnik, die in der Mode gerade wieder einmal en vogue war. Aber der Kontrast könnte größer nicht sein.In Monate langer meditati-ver Arbeit entstehen zunächst Körperhüllen, die Body Suits, die später mit Füllmaterial aus-gestopft werden wie Puppen. Zeichnungen von Albrecht Dürer helfen der Künstlerin dabei, die richtigen Proportionen für die Body Suits einzuschätzen, deren Passform sich erst mit der Füllung erweist. Korrekturen sind kaum möglich. Der Realisationsprozess ist so von vorne-herein weitgehend festgelegt. So hat die Künstlerin sich nur in den Modellen die Freiheit ge-stattet, Varianten und Alternativen durchzuspielen. Aber Skizzen, Zeichnungen und Texte begleiten die gesamte Entstehung der Softsculptures , und Fotos dokumentieren mögliche Präsentationsformen. Zeichnung und Linie sind wichtigster Bestandteil und charakteristisches Merkmal dieser Skulpturen. Die ursprünglich in der Fläche beheimatete Linie entwickelt sich zum räumlichen Objekt und Behältnis, zur Umhüllung eines verborgenen Kerns. Die in Stoff materialisierte Linie wird gleichsam zur Außenhaut eines Körpers. Der Herstellungsprozess erinnert an bio-logische Entwicklungsstadien wie Ei, Puppe oder Larve. Die Künstlerin verzichtet weitgehend auf Farbe. Das vorherrschende Weiß ist eine abstrakte Farbe. Im Bild steht Weiß für Leere, Raum und ist Projektionsfläche für die Gedanken des Künstlers. Hier in den Plastiken spiegelt es die Assoziationen des Betrachters wider. Darüber hinaus symbolisiert Weiß Reinheit und Unschuld, Verletzlichkeit und Tod. Ohne Fassung sind diese Body Suits, die Körper-Anzüge. Sie verbergen nichts, bringen vielmehr die Nacktheit der Figuren schutzlos und unverhüllt zum Ausdruck. Der Betrachter nimmt angedeutete Gesten wahr, physiognomische Details wie Gesichter, Brüste, Hände und Füße, gerade so viel, dass er daraus Menschen erkennen kann. Er realisiert aber vor allem das, was er, von der Vorstellung der menschlichen Figur ausgehend, nicht vorfindet: individuelle realistische Attribute wie Haare, Augen und Blick, Statur, eine feste kohärente Gestalt, ein Gegenüber. Hier sei erwähnt, dass die einzige „blickende“ Skulptur die Gestalt der Toten ist. Mit den „Gruppenbildern“ stellt Friederike Kahle-Nicolaides ihre Figuren in einen neuen, überpersönlichen Bedeutungszusammenhang. Diese Inszenierungen haben eine Hauptan-sichtsseite und lesen sich wie plastische Bildwerke, sie stehen damit in der Tradition des barocken Altarbildes oder der Kreuzigungs-Szenen. Die Kreuzgruppe ist vor allem vertikal ausgerichtet und folgt in der angedachten Dreieck-Anordnung historischen Vorbildern. Die Akteure wurden ausgetauscht und ins Allgemein-Menschliche überführt, mit Jesus-Adam und Maria-Sister Eve. Die christliche Kreuzlegende wird zur Lebens- und Leidensgeschichte des Menschen umgedeutet, Jesus zum Urvater aller Menschen. Diese Installation erhöht die Einzel-Skulptur zum Sinnbild des Menschlichen schlechthin. Die zentrale Gruppe der Lebensalter ist zu einem parallelen Familienbild arrangiert, das mehr die Horizontale als die Vertikale betont. Das entnehme ich den vor mir liegenden Fotos. Ich sehe hier die lebens-große Inszenierung einer Lagerung, eines Lagers. Wir alle haben inzwischen Bilder von La-gern im Kopf. Dicht an dicht liegen sie da, eine Alte, eine Schwangere und das Mädchen, mit verschränkten und verschlungenen Armen. Der Säugling als einziger mit lustvoll gespreizten Gliedern. Der Fokus meiner Betrachtung liegt nicht etwa auf den Gesichtern, sondern auf dem jeweils zentralen Rumpf. Die Körper, ohne die Gliedmaßen, enthalten bereits alles, was diese Skulpturen ausmacht. Wie antiker vom Regen ausgewaschener Kalkstein deutet der Torso bereits das Mögliche der Gestaltung an, ohne es zu zeigen. Der Betrachter sieht nicht eine im bildhauerischen Sinne fertig ausgeformte Gestalt, sondern erlebt die Gestaltwerdung, eine Metamorphose. Wenn ich nach verwandten „Bildern“ suche, fallen mir zunächst keine künstlerischen Vor-bilder ein, sondern Relikte aus dem Totenkult, rituelle Objekte, eingewickelte Mumien, aber auch verletzte und bandagierte Körper. ( ……..) Eine Geistes-Verwandtschaft vermute ich viel eher bei den frühen monumentalen Frauenfiguren der Bildhauerin Maria Lehnen, deren voluminöse Körperlichkeit durch Abschnürungen entstand. Oder auch in Maria Lassnigs spiritueller Auffassung des weiblichen Körpers als Behältnis für Empfindungen, Schmerzen, Leiden und Sterben. Ich erinnere einen Besuch in den Katakomben von Palermo vor vielen Jahren. Die Ruhe und Stille der Jahrhunderte alten Grablegungen im Zwielicht des Kellers umfing mich, ich war allein. Eine fast heitere Erfahrung waren die Geistlichen im Ornat, in Nischen gebettet oder gestellt. Die trockene Luft ließ die Körper eintrocknen. Geisterhaft deutende Gesten und physiognomische Attitüden verrieten eine stille An-Wesenheit und ruhige Würde. Besonders waren die 1-3 Jährigen Kinder: in Kleidchen stehen sie da in den Nischen, mit geschlossenen Augen und blassen Gesichtern. Die Spur des Gewesenen, ohne das Gewicht von Leben oder Leiden. Nur: Sosein, Stille. Die Skulpturen von Friederike Kahle-Nicolaides brechen mit den Erwartungen ästhetischer Gestaltung. Sie zeigen uns eine Realität, in der die Künstlerin selbst immer auch die Schön-heit gesehen hat. Will der Betrachter diese Schönheit für sich entdecken, muss er sich ganz auf diese innere Wirklichkeit einlassen. (…..) Krefeld, im Juni 2017 Christine Prause

 

   

WALZWERK  NULL  Düsseldorf - Text zur Ausstellung MENSCHENBILDER

 

Die Objekte von Friederike Kahle-Nicolaides sind keine leichte Kost. Die lebensgroßen weißen textilen Gestalten wirken sperrig, widerständig. Jenseits der Kategorien von schön und hässlich, in eigener Strenge zeigen sie sich in intensiver körperlich räumlicher Präsenz. ( .... )

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Der Besuch ist kein dialogischer. Es herrscht Stille. Der Besucher wird mit sich und den Figuren gleichsam allein gelassen. Sie verschließen sich blicklos der kulinarischen/einfachen/bequemen/süffigen ... Rezeption. Sie erzählen keine Geschichten. Sie sind fraglos da, stehen für nichts anderes als für sich selbst. Die Projektionsfläche für Assoziationen ist weiß und leer und befindet/konstituiert sich in der Person des Betrachters. Der künstlerische Prozess selbst ist aus der Linie kommend definiert. Die Linie materialisiert sich im Faden, begibt sich aus der Zweidimensionalität in das Dreidimensionale, in den Raum. Der Faden lässt, umschreibend und -im Wortsinn- sich verknüpfend, das Objekt entstehen. Das Objekt erinnert an Haut ,Kokon, Puppe, Skulptur, entlassen in die irritierende Ambivalenz von Beweglichkeit und Starre.Die figurative Plastik, die Figur wird zum Ding. Diese Dinghaftigkeit fragt nach den Dimensionen belebter und unbelebter Existenz, verweist auf Grunderfahrungen. Menschenbilder. Friederike Kahle-Nicolaides studierte Kunst und Kunstwissenschaft an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf. Das Themenfeld Figur und Raum thematisierte sie bereits in ihren starkfarbigen großformatigen Bildern bis zum Abbruch ihrer künstlerischen Arbeit. Jetzt stellt die in Kehdingen (Niedersachsen) lebende Künstlerin sich neu mit ihren neuen Arbeiten zunächst in Düsseldorf einem interessierten Publikum vor.

ZEITRÄUME Burgdorf / TIMESPACES Burgdorf - Text von Susanne Paul

Die Installation von Friederike Kahle-Nicolaides in der Martin-Luther-Kirche in  Burgdorf  –  ein Gesprächsanlass

 

"Die sind aber nicht schön!“

 

Diesen Ausruf hörte ich hinter mir, als wir mit unseren ehrenamtlichen Mitarbeitenden

 eine Führung durch die Ausstellung ZeiTRäume in unserer Kirche machten.

 Ich drehte mich um und lächelte ( … ) fragend:  „Und warum nicht?“

 Erstaunt sah sie mich an: „Warum nicht? …  Ja, ich weiß auch nicht!“

 

 So kamen wir ins Gespräch.

 

Über die Kunst, die einfach nur schön ist, die uns manchmal fast den Atem nimmt.

 Über Kunst, die wirklich einfach nur schön ist.

 Und über Kunst, die uns über Schönheit nachdenken lässt –

 wie die Installation von Friederike Kahle-Nicolaides.

 

 Ihre Figuren sind gehäkelt, haben keine glatte hautfarbene Oberfläche, keine Haare,

 auch sonst ist nichts Farbiges an ihnen.

 

Und doch entstehen gleich Bilder in meinem Kopf.

Die Frauen, die in ihren Badeanzügen im Thermalbad sitzen – 

stumm auf der Bank in der Sonne.

Menschen auf dem Bahnsteig,

müde und erschöpft.

 

Und ich entdecke in den gehäkelten Gesichtern Gesichtsausdrücke, die ich kenne,

in den Körperhaltungen Ausdrücke, die mir vertraut sind.

 

Aus weißem Garn  gehäkelt -  und doch Menschen wie du und ich –

mit dickem Bauch und hängendem Busen,

mit einem einzigartigen Gesicht.

 

Eine Kunst, die nicht schön ist im Sinne von vollkommen und glatt, das nicht.

Aber eine, die genau dieses Schönheitsideal  hinterfragt

und mich auf die Schönheit im Alltag verweist.

 

Auf die Menschen wie du und ich, die ihre eigene Schönheit haben,

die sperrig ist und spröde,

manchmal  traurig macht,

einzigartig ist.

 

 

„Sie sind nicht schön, aber ich sehe sie gerne an!“ sagte die Frau, bevor wir weitergingen.

 

 

 

Von Susanne Paul

 

TIMESPACES Burgdorf - Text by Susanne Paul

The Installation by Friederike Kahle-Nicolaides Martin Luther Church, Burgdorf – An occasion to get talking

"They are not beautiful, are they?“

 

This was the exclamation that I heard behind me when we did a tour of the exhibition TIMESPACES

for our parish volunteers.

I turned round and smiled (…) asking: „And why not?“.

She looked at me in surprise: „Why not? … Well, I don’t know, really.“

 

That's how we got talking.

 

About art that is simply beautiful, that sometimes almost takes our breath away.

About art that really is simply beautiful.

And about art that makes us think about beauty -

like the installation of Friederike Kahle-Nicolaides.

 

Her figures are crocheted, have no smooth, skin-colored surface, no hair

nor anything coloured about them.

Art that does not offer an immediate smiling welcome.

Saddening sometimes,

Unique.

 

And yet images immediately emerge in my mind.

 

Women in their bathing suits in the thermal baths -

sitting silently on a bench in the sun.

People on a station platform

tired and exhausted.

 

And in the crocheted faces I discover expressions that I know,

In the postures gestures that are familiar.

 

Crocheted in white yarn, yet people like you and me

with fat belliy and drooping breasts,

with a unique face.

 

An art that is not beautiful in the sense of perfect and smooth, certainly not,

 but an art that questions precisely this idea of beauty

and points to beauty in everyday life.

 

To people like you and me that have their own beauty.

 

„They are not beautiful, but I like looking at them“, said the woman before we left.

 

 

By Susanne Paul /Translated by Dr. Klaus Wieser

 

SUSANNE PAUL 

Foto Detlev Müller


VILLA SPONTE Bremen - Text zur Ausstellung KÖRPERNETZE

Körpernetze

nennt Friederike Kahle-Nicolaides ihre Ausstellung in der Villa Sponte. Netze fangen ein, dehnen sich, tragen. Die grobmaschigen flächigen textilen Objekte halten ihren Inhalt zusammen. Körper sind dreidimensionale Gegenstände. Sie werden durch ihre Grenzflächen beschrieben, „eingefangen“.

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Körpernetze bezeichnen in der Geometrie aufgeschnittene, in der Ebene ausgebreitete Körper, Baupläne für plastische geometrische Gebilde. Das Wort Netz scheint sich gegenwärtig zwangloser der digitalen Welt zuzuordnen als der Welt der Dinge und lebendigen Beziehungen. Das Erfahrbare wird körperloser. Und wir –wir alle, Mann oder Frau- bewohnen einen Körper. Wir sind Körper, nicht denkbar ohne den Raum. Es ist der Gegenstand, das ‚Ding‘, das plastische Objekt, an dem wir unsere existenzielle Erfahrung überprüfen, selbst handelnde Objekte im Raum zu sein, ihn auszuloten, zu bestimmen – und ganz konkret zu verändern. Hier liegt der Antrieb für die Arbeiten Friederike Kahle-Nicolaides. Sie fragen uns direkt und in starker körperlicher Präsenz ebenso still wie schonungslos nach dieser Erfahrung: wie es ist, einen Körper zu haben, Körper zu sein – veränderlich, wirklich, in seiner äußeren und inneren Realität. Menschliche Grunderfahrungen exemplarisch zu ver-körpern ist das Anliegen der Figuren, die entstehen, wachsen, prall werden, verschleißen – „Körpergehäuse“, mit einem Begriff Maria Lassnigs. Die Figuren verweisen bereits in der Wahl des Materials auf ihren Ursprung in der Zeichnung. Faden, Schnur und Draht bleiben die in der Fläche beheimatete Linie, die sich durch Verflechtung, Verknüpfung und Schlingenbildung im Raum materialisiert. Sie wird so zum ‚stofflichen‘ Objekt, zur Hülle, zur Außenhaut eines Körpers. In den ‚Reusen‘, den neuen, aus Draht geknüpften Objekten öffnet sich der Raum auch nach innen. Innen und Außen sind gleichzeitig sichtbar. Das Spiel von Licht und Schatten holt die Körpernetze als temporäre, transitorische Zeichnung zurück auf die zweidimensionale Fläche der Wand.

KÖRPERNETZE - Zu den Plastiken von Friederike Kahle-Nicolaides

 

Rainer B. Schossig

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung in der Villa  Sponte


[ ..... ]

Friederike Kahle-Nicolaides ist [… gebürtige] Hannoveranerin und hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Sie […] lebt in Niedersachsen. [Seit 2015] arbeitet sie als Bildhauerin. Aber Vorsicht: Bilder hauen, da denkt man an Hammer und Meißel, Stein oder Keramik. Davon ist bei ihr eher wenig zu sehen: In den jüngsten Ausstellungen ihrer Objekte und Installationen zeigte sie vorwiegend Weiches, Lockeres, Genähtes und Gehäkeltes - im Raum. Wir sehen lumpige Gestalten, textile Figuren, aber nein, nicht nur auf Weiches, Fein-Stoffliches, auch auf Sperriges, schwer Verdauliches stoßen wir. Im Weichen steckt Härte, oder, anders ausgedrückt: Das Harte versteckt sich im Sanften. Friederike nennt das – skulpturale Strukturen.

 

[ ..... ]

 

... geflochtener Draht deutet Grenzen an: zwischen Form und Inhalt, Verkörperung und Entkörperung, Verinnerlichung und Entäußerung, Positiv- und Negativ-Form, Konvex und Konkav. Die Netze sind hohl, wie von den Trägern abgezogene Häute. In ihrer formalen Zwieschlächtigkeit erinnern sie inhaltlich natürlich an Wesen oder Gegenstände, ihr Ausgehöhlt-Sein verweist auf den Doppelcharakter unserer Welt: Fülle und Leere als zwei Seiten einer Medaille.

 

Und bei all dem sind diese Objekte greifbare, begreifbare, gegenständliche und figürliche Kunst. Im Mittelalter hat man (Mann!) weise Frauen als Hexen verbrannt, weil sie sich auf die Kunst der Verwandlung von Materie in etwas Neues, Spirituelles verstanden. Weil sie Unfassliches fassbar, begreifbar machen konnten. Friederike bedient sich […] der Linie; ihre Linie ist der feine Draht oder der Faden, damit zeichnet sie – im Raum: Strichlagen werden verdichtet zu greifbaren Strukturen. Grafisches wird in Volumina über-ge-setzt, wird zum Raum-verdrängenden Gebilde, kommt zur Gestalt, freigesetzt im Rahmen der Installation.

 

[ ..... ]

 

... zum humanen Bezug des textilen Personals von Friederike:

Schon im Treppenhaus begrüßen uns kleine graue Figurinen, stehen, sitzen, balancieren, springen, fliegen… Ein drahtiger Türsteher wacht am Eingang, und in den Räumen stoßen wir immer wieder auf Puppen-Gruppen, einsam oder als Paare und Passanten, ganzen Gruppen, mehrheitlich weiblich, Mütter, Kinder. Sie bedrohen niemanden, aber machen sich bemerkbar, fordern uns heraus! Seit dem Jahr 2015 denke ich bei solchen Gruppen unwillkürlich an Flüchtlinge. Sie verschließen sich jeder kulinarischen Rezeption, scheinen uns Fragen zu stellen, Geschichten zu erzählen, aber wir verstehen ihre Sprache nicht.

[ ..... ]

Wir sind gefragt. Wir müssen Mittel und Wege finden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Friederike Kahle-Nicolaides tut künstlerisch einiges, um uns Betrachter dabei zu unterstützen. Sie will ihre Figuren nicht in Quarantäne belassen, sie hat sie in den real existierenden Raum entlassen. Unmittelbar vor uns können sie ihre Wirkung entfalten, ihr Unwesen treiben. Das Prinzip Nadel und Faden erinnert an die wartende Penelope, die nachts immer wieder auftrennt, was sie tags gewebt hat. Nach einem ähnlichen verborgenen Muster holt Friederikes Näh-Praxis Vergangenes zurück ins Jetzt, verknüpft, was zusammen kommt. Macht aus unfreien Puppen freie Skulpturen. Sie werden scheinbar lebendig, verharren zwischen Beweglichkeit und Starre, fordern uns zum Spielen heraus. Das künstlerische Objekt wird Spiel-Sache, nicht verdinglicht, sondern verlebendigt. In ihrer demonstrativen Dinghaftigkeit frag uns diese Figuren insgeheim nach den Möglichkeiten belebter sozialer Existenz, Solidarität, Mitgefühl, Zuneigung. Wir werden erinnert an verschüttete zwischenmenschliche Erfahrungen, an unsere Empathie.

 

Noch einmal:  Friederike [Kahle-Nicolaides] bedient sich der Linie, in Form von Faser und Faden, Kordel, Schnur oder Draht, webt daraus mehr greifbare Gestalten, textile Gebilde, Netze und Texte. Allesamt: Ver-körperungen, Raum-greifend.

[ ..... ]

 Sie produziert Netze und Texte. Bekanntlich sind geschriebene Texte verwobene Textur, Sinn-Strukturen von Bedeutendem, Jahrhunderte schrieb man mit Tinte und Feder – mit Tinte und Feder. Friederike schreibt über ihr künstlerisches Handwerk auch poetisch:

 

 

Häkeln. Die Sache mit dem Haken.

Der (rote?) Faden.

Eine Schnur, eine Linie.

Am Anfang steht die Schlaufe.

 

(…)

 

Ich bringe die Linie auf den Weg.

Ich begleite sie.

Alles Weitere habe ich nicht mehr in der Hand.

 

Sie handelt. Wird Gegen-stand. Wird Körper im Raum.

 

 

Ich danke Friederike ganz besonders für diesen gedichteten, also ver-dichtenden Leit-Faden zum Verständnis ihres Tuns. Er führt die Parallelen von Zeichnen und Schreiben einleuchtend vor. Da ist gar nichts zu reimen, aber Häkel-Maschen müssen ineinander fassen, damit sie nicht zu Luft-Maschen werden.

[ .....]                                                                                                                                                                                        Rainer B. Schossig

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„Körpernetze“ Eröffnung Galerie Villa Sponte am 1. März 2020 Zu den Plastiken von Friederike Kahle-Nicolaides Wir kennen uns noch gar nicht lange. Und natürlich wollte ich von Friederike Kahle-Nicolaides wissen, wie sie arbeitet. Das erste, was sie mir zu ihrer künstlerischen Arbeit schrieb, war […]: dass das Streben nach Genauigkeit und Klarheit ihr oft zum Problem würde: „Ich muss aufpassen und mich zusammennehmen, dass ich bei der SACHE bleibe und nicht dem Sog der Lust an der Sprache verfalle – immer schon – und der frei mäandernde Fluss der Wörter verunklärt, was mir an SINN so evident erscheint.“ […] aufschlussreich: Ästhetisches Denken, das ja immer auch mit dem Unerklärten, dem Schwankenden und dem Geheimnisvollen spielt, wie kann das auch wissenschaftliche Genauigkeit und Klarheit mit einbeziehen, ohne sich als eigenständiges künstlerisches Denken aufzugeben? Friederike Kahle-Nicolaides ist [gebürtige, Anm.F.K.-N] Hannoveranerin und hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Sie […] lebt in Niedersachsen. [Seit 2015] arbeitet sie als Bildhauerin. Aber Vorsicht: Bilder hauen, da denkt man an Hammer und Meißel, Stein oder Keramik. Davon ist bei ihr eher wenig zu sehen: In den jüngsten Ausstellungen ihrer Objekte und Installationen zeigte sie vorwiegend Weiches, Lockeres, Genähtes und Gehäkeltes - im Raum. Wir sehen lumpige Gestalten, textile Figuren, aber nein, nicht nur auf Weiches, Fein-Stoffliches, auch auf Sperriges, schwer Verdauliches stoßen wir. Im Weichen steckt Härte, oder, anders ausgedrückt: Das Harte versteckt sich im Sanften. Friederike nennt das – skulpturale Strukturen. Um mich in ihrem Bestiarium belebter Gestalten zurechtfinden zu können, hat sie mir einen Leitfaden geschickt: [den ]„FADEN DER ARIADNE“ „Meine Vita weist Brüche auf. Mein neuer künstlerischer Werdegang beginnt 2015. Vorher – das ist schon lange her und ich meinte, die Kunst über Bord geworfen zu haben, meine Malerei jedenfalls. Bis sie dann plötzlich wieder da war. Neu, und in verwandelter Form.“ Und diese Form-Findungen sehen wir heute, hier in dieser Villa. Schauen wir genauer hin! Körpernetze – so hat die Künstlerin die Bremer Schau genannt. Die Netze stehen und liegen am Boden, auf Podesten und hängen an den Wänden, sie erinnern an allerlei aus Tier-, Pflanzen und Menschenwelt: Wabe [… ] , Kalebasse, Pendel und Handschuh… […]geflochtener Draht deutet Grenzen an: zwischen Form und Inhalt, Verkörperung und Entkörperung, Verinnerlichung und Entäußerung, Positiv- und Negativ-Form, Konvex und Konkav. Die Netze sind hohl, wie von den Trägern abgezogene Häute. In ihrer formalen Zwieschlächtigkeit erinnern sie inhaltlich natürlich an Wesen oder Gegenstände, ihr Ausgehölt-Sein verweist auf den Doppelcharakter unserer Welt: Fülle und Leere als zwei Seiten einer Medaille. Und bei all dem sind diese Objekte greifbare, begreifbare, gegenständliche und figürliche Kunst. Im Mittelalter hat man (Mann!) weise Frauen als Hexen verbrannt, weil sie sich auf die Kunst der Verwandlung von Materie in etwas Neues, Spirituelles verstanden. Weil sie Unfassliches fassbar, begreifbar machen konnten. Friederike bedient sich […] der Linie; ihre Linie ist der feine Draht oder der Faden, damit zeichnet sie – im Raum: Strichlagen werden verdichtet zu greifbaren Strukturen. Grafisches wird in Volumina über-ge-setzt, wird zum Raum-verdrängenden Gebilde, kommt zur Gestalt, freigesetzt im Rahmen der Installation. In der Antike nannte man die Schicksals-Göttinnen PARZEN. Sie saßen in unerreichbarer Höhe und nähten, spannen, webten die Lebenslinien der Sterblichen. Friederikes Fäden sind handfester, sie kommen aus der Handwerks-Tradition. So werden aus Lappen und Flicken, aus gewöhnlichen, "armen" Stoffen urplötzlich Skulpturen. Komplexes Resultat aus einfachem Material. Das Prinzip dieses charmanten Schaffens hat der Dichter Arthur Rimbaud mit dem berühmten Wort umschrieben: „Was kann das Holz dafür, dass es als Geige erwacht?“ Der Auslöser kann biographischer Natur sein, muss aber nicht. Soweit ich weiß, war Friederike [Kahle-Nicolaides] weder Geigerin noch Schneiderin. Bescheiden lässt sie die Figuren selbst erzählen, wortlos, ohne Gebrauchsanleitung werden sie zu Raumzeichen. Friederike scheibt: „Die Linie ist Handlauf und Spur. Der Faden der Ariadne. Ein magischer Prozess. Man kann ihm verfallen.“ Bisher habe ich vor allem vom Handwerk gesprochen, das [Kahle-Nicolaides] übrigens hoch schätzt. Nun muss und möchte ich zum Kern kommen, zum humanen Bezug des textilen Personals von Friederike: Schon im Treppenhaus begrüßen uns kleine graue Figurinen, stehen, sitzen, balancieren, springen, fliegen… Ein drahtiger Türsteher wacht am Eingang, und in den Räumen stoßen wir immer wieder auf Puppen-Gruppen, einsam oder als Paare und Passanten, ganzen Gruppen, mehrheitlich weiblich, Mütter, Kinder. Sie bedrohen niemanden, aber machen sich bemerkbar, fordern uns heraus! Seit dem Jahr 2015 denke ich bei solchen Gruppen unwillkürlich an Flüchtlinge. Sie verschließen sich jeder kulinarischen Rezeption, scheinen uns Fragen zu stellen, Geschichten zu erzählen, aber wir verstehen ihre Sprache nicht. Diese schön hässlichen, unartigen, widerständigen Gestalten haften im Sinn, verwirren und bezaubern uns, nicht als Kobolde oder Trolle. Sie sind von irritierender, geradezu unheimlicher körperlicher und räumlicher, aber auch sozialer Präsenz. Als Besucher sind wir mit ihnen gleichsam allein gelassen. Wir sind gefragt. Wir müssen Mittel und Wege finden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Friederike Kahle-Nicolaides tut künstlerisch einiges, um uns Betrachter dabei zu unterstützen. Sie will ihre Figuren nicht in Quarantäne belassen, sie hat sie in den real existierenden Raum entlassen. Unmittelbar vor uns können sie ihre Wirkung entfalten, ihr Unwesen treiben. Das Prinzip Nadel und Faden erinnert an die wartende Penelope, die nachts immer wieder auftrennt, was sie tags gewebt hat. Nach einem ähnlichen verborgenen Muster holt Friederikes Näh-Praxis Vergangenes zurück ins Jetzt, verknüpft, was zusammen kommt. Macht aus unfreien Puppen freie Skulpturen. Sie werden scheinbar lebendig, verharren zwischen Beweglichkeit und Starre, fordern uns zum Spielen heraus. Das künstlerische Objekt wird Spiel-Sache, nicht verdinglicht, sondern verlebendigt. In ihrer demonstrativen Dinghaftigkeit frag uns diese Figuren insgeheim nach den Möglichkeiten belebter sozialer Existenz, Solidarität, Mitgefühl, Zuneigung. Wir werden erinnert an verschüttete zwischenmenschliche Erfahrungen, an unsere Empathie. Noch einmal: Friederike [Kahle] bedient sich der Linie, in Form von Faser und Faden, Kordel, Schnur oder Draht, webt daraus mehr greifbare Gestalten, textile Gebilde, Netze und Texte. Allesamt: Ver-körperungen, Raum-greifend. Friederike schaut dabei aufs Kleine, nicht nur auf die große Linie kommt es ihr an, nein, zugleich aufs Detail, auf jedes Wort, jede Silbe. Davon möchte ich abschließend sprechen. Ich sagte eben: Sie produziert Netze und Texte. Bekanntlich sind geschriebene Texte verwobene Textur, Sinn-Strukturen von Bedeutendem, Jahrhunderte schrieb man mit Tinte und Feder – mit Tinte und Feder. Friederike schreibt über ihr künstlerisches Handwerk auch poetisch: Häkeln. Die Sache mit dem Haken. Der (rote?) Faden. Eine Schnur, eine Linie. Am Anfang steht die Schlaufe. (…) Ich bringe die Linie auf den Weg. Ich begleite sie. Alles Weitere habe ich nicht mehr in der Hand. Sie handelt. Wird Gegen-stand. Wird Körper im Raum. Ich danke Friederike ganz besonders für diesen gedichteten, also ver-dichtenden Leit-Faden zum Verständnis ihres Tuns. Er führt die Parallelen von Zeichnen und Schreiben einleuchtend vor. Da ist gar nichts zu reimen, aber Häkel-Maschen müssen ineinander fassen, damit sie nicht zu Luft-Maschen werden. Friederike Kahle-Nicolaides geht gern viele künstlerische Wege. „[…] meine Nebenwege“ [in Anlehnung an den Bildtitel Paul Klees, Anm.F.K.-N.], schrieb sie mir, „sind ein Minenfeld. […], [„‚Verheddern‘ wäre hier das gegebene Wort, vom Hölzken aufs Stöcksken. Deshalb ist die Häkelnadel das Gebot der Stunde gewesen und nicht das Klöppelwerkzeug“]. [Noch einmal:] Deshalb sei ihr „die Häkelnadel das Gebot der Stunde. Denn das Entscheidende an der Häkelnadel ist ihr Haken“. Rainer B. Schossig [Auslassungen, Ergänzungen und Anmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt. F.K.-N.]

Weserkurier 3.5.2020  - Zur Ausstellung Körpernetze in der Villa Sponte

TEXT Mathias Holthaus / FOTOS Roland Scheitz

WESERKURIER  3.5.2020 -  Zur Ausstellung KÖRPERNETZE in der Villa Sponte

Kreiszeitung Syke Weyhe Stuhr vom 6.3,20 / Bremer Stadtseite

Foto INVO
Foto INVO

 

 

Kunstinfo.net - Kunstwerk des Monats April 2022

soredptnoS2163ttluh0 t.gip47u5tra7ill1A1c„Kunst, die mich und meine Sicht auf die Welt anfragt, die mich provoziert“😯
- schreibt Landesfrauenpastorin Susanne Paul zum „Kuschel-Jesus“ von Friederike Kahle-Nicolaides. Das Textil-Kunstwerk aus dem Jahr 2015 ist Kunstwerk des Monats April des Arbeitsfeldes Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste und tut genau das.
„Ungewöhnlich in Farbe und Material – die Seiten des Kreuzes sind mit besonders weichem Garn gehäkelt und fühlen sich wirklich kuschelig an. Friederike Kahle-Nicolaides hat sich von Brauchtum der Votivgaben in Dank- und Gnadenkapellen inspirieren lassen. An diesen Orten hängen mit nicht mehr benötigten Krücken, anderen medizinischen Hilfsmitten und Darstellungen von Heiligen Materie gewordene Bilder des Danks. Sie drücken einen tief verwurzelten Glauben an ein Aufgehoben-Sein im Wirken Gottes aus. Die Bilder und Gegenstände holen Gott ganz nah heran, machen Gott anfassbar, spürbar.
Auch der Kuschel-Jesus ist so fassbar geworden. Und die weiche Wolle verleitet dazu, ihn zu streicheln, in den Arm zu nehmen – etwas, das für eine Kreuzesdarstellung absolut ungewöhnlich ist. Dabei liegt die Zuwendung zu dem, der am Kreuz leidet, doch so nahe. Hingehen, Schmerz lindern, mit aushalten, mithalten, das Unrecht beklagen. Aus der Ferne darauf schauen, im sicheren Abstand, vor Altären, in Kirchen und Kathedralen hat auch etwas damit zu tun, wie wir mit Unrecht und Leiden in unserer Welt umgehen. Gerade jetzt in der Passionszeit geht es auch genau darum: wo setze ich mich dem Leiden anderer aus? Wie sehr bin ich verstrickt in ungerechte Strukturen, die Leiden hervorbringen und legitimieren?“
📷 Friederike Kahle-Nicolaides „Kuschel-Jesus“ (2015) - eine textile Miniatur.
Fotos: Dennis Improda

 

https://www.facebook.com/555483361302511/posts/kunst-die-mich-und-meine-sicht-auf-die-welt-anfragt-die-mich-provoziert-schreibt/1926060304244803/

Link unterhalb Textfeld anklicken.

 

DER GANZE TEXT (Susanne Paul):

 

Kuschel-Jesus    Kunstwerk des Monats April

 

Kennengelernt habe ich Friederike Kahle-Nicolaides bei einer Kunstausstellung in meiner damaligen Gemeinde. Ihr gehäkelten Figuren, ein bisschen unförmig und ohne Gesicht und doch anrührend und besonders faszinierten mich damals schon. Und genauso geht es mir auch mit ihrem Werk „Kuschel-Jesus“ aus dem Jahr 2015. Ungewöhnlich in Farbe und Material – die Seiten des Kreuzes sind mit besonders weichem Garn gehäkelt und fühlt sich wirklich kuschelig an. Friederike Kahle-Nicolaides hat sich von Brauchtum der Votivgaben in Dank- und Gnadenkapellen inspirieren lassen. An diesen Orten hängen mit nicht mehr benötigten Krücken, anderen medizinischen Hilfsmitten und Darstellungen von Heiligen Materie gewordene Bilder des Danks. Sie drücken einen tief verwurzelten Glauben an ein Aufgehoben-Sein im Wirken Gottes aus. Die Bilder und Gegenstände holen Gott ganz nah heran, machen Gott anfassbar, spürbar.

 

Auch der Kuschel-Jesus ist so fassbar geworden. Und die weiche Wolle verleitet dazu, ihn zu streicheln, in den Arm zu nehmen – etwas, das für eine Kreuzesdarstellung absolut ungewöhnlich ist. Dabei liegt die Zuwendung zu dem, der am Kreuz leidet, doch so nahe. Hingehen, Schmerz lindern, mit aushalten, mithalten, das Unrecht beklagen. Aus der Ferne darauf schauen, im sicheren Abstand, vor Altären, in Kirchen und Kathedralen hat auch etwas damit zu tun, wie wir mit Unrecht und Leiden in unserer Welt umgehen.

 

Der Kuschel-Jesus von Friederike Kahle-Nicolaides kommt mir nahe. Und gleichzeitig ist diese Nähe auch gefährlich verführerisch. „Wozu haben wir dich gemacht, zu zorniger, fordernder, Tische werfender, lebensfroher, lebendiger Gott?“ fragt die Künstlerin im Blick auf ihre Skulptur. Die Pinkisierung des Kreuzes zeigt, wie harmlos und glatt wir das Evangelium verhandelt haben. Sperriges muss flexibel werden, Menschenrechte sind wichtig, aber auch verhandelbar, klimaneutral soll der Umgang mit der Schöpfung schon sein, aber Atomenergie wird dabei umgewandelt in eine grüne Energie. Was uns fordert und verstört, was anders ist als normal, was vertraute Wege plötzlich verstellt – all das wird glattverhandelt, wird flauschig und pink, so dass wir vor lauter Fühlen und Farbe vergessen, wie anstößig Gott für uns denkt.

 

Hier schließt sich für mich der Kreis. Denn bei allem, was wir glatt verhandeln, wo wir Ecken entfernen und es uns kuschelig machen, bleibt doch auch der Kuschel Jesus von Friederike Kahle- Nicolaides anstößig in Form und Farbe, lässt mich nicht gleichgültig – nicht beim Hinschauen und nicht beim Anfassen. Und das ist gut so!